Die eigene Stimme: Wie du sie beim Schreiben findest
Jeder Autor und jede Autorin da draußen hat sie in sich, die „eigene Stimme". Jene Art, zu schreiben, die ihm oder ihr ganz persönlich zu eigen ist. Man schlägt die erste Seite eines Werkes auf, liest ein paar Zeilen und sofort weiß man genau, mit wem man es zu tun hat. Wahrscheinlich hast du schon oft gehört, dass du diese Stimme unbedingt finden musst, wenn du eine gute Autorin sein möchtest. Doch was genau ist diese Stimme? Und wie macht man sich auf die Suche nach ihr?
Anne und Eve haben in der Folge 90 einen Versuch gestartet und sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Reinhören lohnt sich:
Was ist die eigene Stimme nicht?

Oftmals wird die eigene Stimme mit dem Schreibstil oder der Themenwahl verwechselt. Wenn ein Autor oder eine Autorin nur kurze Sätze verwendet, jeder einzelnen Protagonistin ein Muttermal auf die rechte Wange schreibt oder nur „düstere“ Themen wählt, wird oft angenommen, dies seien Ausdrücke einer eigenen Stimme.
Doch stimmt das? Nur zum Teil.
Manche Autorinnen machen es sich einfach und machen einen Aspekt ihres Schreibens zu ihrem Markenzeichen. Dabei kommen häufig Geschichten raus, die mehr Stil als Gehalt besitzen („style over substance"). Zu schnell schiebt man sich damit selber in eine Schublade, aus der man nicht mehr rauskommt – und die einer weiteren Entwicklung im Wege steht.
Verschiedene Geschichten brauchen verschiedene Stilmittel, um am besten zur Geltung zu kommen. Wenn man sich auf einzelne versteift, um sich besser abzuheben, beraubt man sich vieler schriftstellerischer Möglichkeiten. Deswegen sollte man den „Ton" einer Geschichte (Wortwahl, Semantik, Grammatik etc.) nicht mit dem verwechseln, was sie aussagt.
Aber was ist die eigene Stimme dann?
Deine eigene Stimme ist eine Ansammlung all der Entscheidungen, die genau du basierend auf deinen ganz eigenen Erfahrungen, Werten, Fähigkeiten und Vorlieben triffst. Du bist die Sammlung all der Dinge, die du gesehen und Gedanken, die du gedacht hast. Sie spiegelt sich in den Zwischenräumen deines Textes wider.
Welche Lösungen findest du für die Probleme deiner Charaktere?
Welche Themen wählst du?
Welche Stimmung erzeugst du?
Welche Weltsicht legst du über deine Geschichte?
All das fließt in deine eigene Stimme ein.
Und „fließen" ist hier das Stichwort. Die Stimme einer Autorin ist kein vorgefertigtes Ding, das einmal mit viel Mühe gefunden wird und dann immer an ihrer Seite ist. Sie ist flexibel und verändert sich, so wie der Mensch, dem sie gehört. Deine Autorinnenstimme, die du mit fünfzehn hattest, ist wahrscheinlich weit von jener entfernt, die du in deinen dreißiger Jahren hast. Und das ist gut so.
Wie finde ich nun meine eigene Stimme?

Am wichtigsten ist es, ehrlich zu sich selbst zu sein. Sich selber mit wohlwollender Neugierde
zu begegnen. Mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und bei allem, was einen berührt, Fragen zu stellen:
Was gefällt mir?
Warum berührt mich das?
Was sagt das über mich aus?
Was wäre, wenn…?
Worüber möchte ich schreiben?
Was habe ich als Individuum der Welt zu sagen?
Und dann heißt es: Üben, üben, üben. Schreiben, schreiben, schreiben. Lesen, lesen, lesen. Ausprobieren, nachahmen. Mit Storyelementen, Ideen und der Sprache spielen.
Neugierig bleiben.
Zum Mitnehmen
Jedem von uns gehen am Tag ca. 60000 Gedanken durch den Kopf. Die meisten davon gelangen gar nicht an die Oberfläche – wir sind uns ihrer nicht bewusst. Das heißt aber nicht, dass sie uns nicht beeinflussen. Im Gegenteil.
Oft weiß man gar nicht so genau, was man denkt.
Deswegen haben wir eine kleine Übung für dich:

Stell dir einen Timer (5, 10, 25 Minuten – wie du magst) und schreib frei drauf los.
Kein Korrigieren, kein Kritisieren, keine Erwartungen.
Einfach schreiben.
So gelangst du in einen Zustand des assoziativen Denkens, der sich auch aus deinen unterbewussten Gedanken speisen kann.
Im Anschluss schaust du dir diesen „stream of consciousness" (Bewusstseinsstrom) an und analysierst ihn.
Welche Themen kommen auf?
Was für Sätze schreibe ich?
Was für ein Vokabular verwende ich?
Gibt es vielleicht Gedanken darin, die ich spannend genug finde, sie weiterzuspinnen?
…
Je öfter du das machst, desto besser bekommst du ein Gefühl dafür, was in deinem Kopf vorgeht – und somit auch für deine eigene Stimme.