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In media res: Fritz-Walter und seine Cornflakes

Aktualisiert: 28. März


Fritz-Walter isst zum Frühstück gerne Cornflakes. So weit, so gut. Aber wer ist Fritz-Walter überhaupt? Und warum sollte es jemanden interessieren, was er morgens isst? Nun, das wollten wir von dir erfahren! Und diese Geschichten findest du hier. Entstanden aus einem improvisierten Beispiel in unserer Folge zum Thema „in medias res“, ist Fritz-Walter nun unser Beispiel, für einen direkten Geschichten-Einstieg mitten im Geschehen. Wir wollten wissen, was du aus diesen wenigen Informationen machst und wie sie dir als Inspiration dafür dienen, eine Geschichte in medias res zu beginnen.


Du hast die Folge noch nicht gehört? Das kannst du jederzeit nachholen:


"Am Haken" von Heidi Metzmeier

Er hatte den linken Haken nicht kommen sehen. Die Wucht der Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Bevor er sich noch Gedanken darüber machen konnte, ob sein Nasenbein gebrochen war, ging er in die Knie und schlug dann, fast in Zeitlupe, mit dem Oberkörper auf dem harten Boden auf. Er befürchtete schon, das Bewusstsein zu verlieren, als er die Stimme seines Coaches aus der Ecke des Boxrings vernahm. "Fritz-Walter, mach bloß keinen Scheiß. Wenn du dich jetzt knockout schlagen lässt, dann war das der kürzeste Kampf der Boxgeschichte. Rappel dich wieder auf, verdammt noch mal!" Fritz-Walter aber hatte nur noch das Bedürfnis zu schlafen. Wie hatte er nur so blöd sein können, sich auf diesen Kampf einzulassen. Seit Jahren war er aus der Übung. Nur langsam fiel ihm wieder ein, dass die zierliche Eva, für die er das hier auf sich nahm, im Publikum saß. Sie zählte auf ihn, denn ohne das Preisgeld würde sie die Operation ihres Jungen, der an einer seltenen Krankheit litt, nicht bezahlen können.


Als Fritz-Walter ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihn mit dieser einen, scheinbar verträumten, Bewegung für sich eingenommen. Wie sie ihre blonde Haarsträhne um den Zeigefinger der rechten Hand gewickelt hatte, während sie ihm ihre anrührende Geschichte präsentierte, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Er wollte sie und daher musste er ihr helfen.


Durch den Nebel seiner Gedanken vernahm er, dass der Ringrichter ihn bereits anzählte. Nur unter Aufbietung all seiner Willenskräfte gelang es ihm, sich aufzurichten. Diese Runde ging eindeutig an seinen Kontrahenten, aber es war noch nicht alles verloren. Im Dunkel der Arena ihren Blick zu finden, war fast unmöglich, doch als er sie sah, entfesselte das seine letzten Reserven. Wie ein Tier stürzte er sich auf seinen Widersacher, nachdem der Ringrichter die nächste Runde mit einer Geste eröffnet hatte. In seiner gedrungenen Gestalt war jeder Muskel zum Bersten gespannt. Seine Instinkte, die ihm in alten Zeiten gute Dienste geleistet hatten, schienen zurückzukehren. Das, was ihn einst als Boxer berühmt gemacht hatte, war wieder aufgewacht. Er lauerte auf seine Chance und nutzte die Millisekunde der Unachtsamkeit seines Gegenübers für den fatalen Schlag.


Als Fritz-Walter später am Abend, Hand in Hand mit Eva, die regennasse Straße zu ihrer Wohnung entlangschlenderte, fühlte er zum ersten Mal seit Ewigkeiten etwas, das Glück sehr nahe kam. Sie setzte dem Ganzen die Krone auf: "Fritz-Walter, ich kann dir nicht viel bieten. Wenn du mich lässt, sorge ich dafür, dass du jeden Morgen Cornflakes zum Frühstück bekommst, so wie du sie liebst." Dann küsste sie ihn auf die Nase. Mit einem vor Schmerz verzerrten Gesichtsausdruck nahm er sie in seine Arme und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich mag sie mit lauwarmer Hafermilch und Schokostückchen." Ihr glockenhelles Lachen war immer noch zu hören, als beide, eng umschlungen, bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden waren.



"Fritz-Walter" von Melanie Wamper

Fritz-Walter schob sich genüsslich den Löffel mit den Cornflakes in den Mund. Er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich genau darauf, wie die warme Milch durch seinen Mund rann und wie seine Zähne mit einem lauten Krachen die süßen Flocken zermahlten. Er liebte diese besonderen Morgende, und er liebte Cornflakes. Doch dadurch, dass er besonders langsam gegessen und geschluckt hatte, war ihm Milch unkontrolliert in die Luftröhre gelaufen, sodass er prustend und halb panisch nach Luft rang und die Augen aufriss, während er den Rest seines Mundinhalts heraus hustete. Wütend warf er den Löffel auf den Tisch und sprang auf, sodass der Stuhl, auf dem er eben noch halb zusammen gesunken gesessen hatte, mit einem lauten Geräusch nach hinten umfiel. Das Husten und nach Luft Ringen war so anstrengend, dass sein Gesicht puterrot anlief und Tränen aus seinen Augen tropften. Endlich, nach wenigen Minuten, hatte sich wieder alles beruhigt, sein Atem ging gleichmäßig und er musste nicht mehr husten. Er wischte sich mit dem schmuddeligen Ärmel die Tränen weg und starrte sie hasserfüllt an.


Die Frau ihm gegenüber war geknebelt und gefesselt. Ihr dunkles Haar mit dem durchscheinenden grauen Ansatz hing ihr strähnig ins Gesicht und klebte an einigen Stellen am getrockneten Blut fest. Sie schaute ihn verwirrt und panisch aus dem linken Auge an, denn das andere war so zugeschwollen, dass das Lid schwer herunterhing. An ihrer Nase hingen ausgehustete Cornflakestückchen und Speichelreste.


"Alles Deine Schuld, Du dumme Scheiß-Kuh!" Er spuckte ihr ins Gesicht und wollte die Hand heben, da ging die Tür auf und schnellen Schrittes kam eine stämmige Frau mit strengem Haarknoten und tief sitzender Brille hinein. Sie stemmte ihre Arme in die Hüfte. Ihr Blick streifte die Frau und traf dann auf Fritz-Walters. "Hatte ich nicht gesagt, dass ich nachher Besuch bekomme? Sieh zu, dass Du Dein Spielzeug los wirst! Und iss' nicht immer so einen ungesunden Fraß!" Verächtlich nahm sie seine Müslischale und leerte sie in einem Schwung im Spülbecken aus.


Fritz-Walter-Geschichte von Jeremy (@hangaia_chroniken)

Genüsslich steckt er sich den vollen Löffel in den Mund und schluckt die weich gewordenen Cornflakes, ohne groß zu kauen, herunter. Zufrieden seufzt er auf, denn genau so hat Fritz-Walter sein Frühstück am liebsten. Dabei lässt er sich auch nicht von dem Chaos stören, das um ihn herum ausbricht.


Krachend stürzt neben ihm ein Dachbalken zu Boden und reißt ein klaffendes Loch zu seinen Nachbarn ein Stockwerk tiefer. Während Frau Müller panisch aufschreit und versucht, sich vor dem Schutt in Sicherheit zu bringen, löffelt Fritz-Walter ungerührt weiter seine Cornflakes. Geräuschvoll schlürft er die Milch vom Löffel und betrachtet zufrieden, wie seine Vorhänge dem züngelnden Feuer zum Opfer fallen. Diese hat er ohnehin nie leiden können.


Während draußen die Sirenen aufheulen und das Blaulicht durch seine nun freien Fenster scheint, nimmt Fritz-Walter den letzten Schluck aus der Schüssel. Vollständig befriedigt ist er sich sicher, dass das ein absolut perfekter Morgen wird, ganz nach seinem Geschmack.


so einen ungesunden Fraß!" Verächtlich nahm sie seine Müslischale und leerte sie in einem Schwung im Spülbecken aus.


"Fritz-Walter isst gerne Cornflakes" von Lilli Voß

„Da steht er wieder!“ denkt sich Babsi, während sie eine Stammkundin bedient. Geistig rollt sie mit den Augen und ist schon jetzt genervt von diesem kleinen Mann, der immer etwas findet, um zu meckern. Jedes Mal, wenn Babsi ihn sieht, muss sie an die Serie „Ein Herz und eine Seele“ denken. Genauer gesagt an Ekel Alfred. Den etwas zu klein geratenen, etwas zu fremdenfeindlichen und unfreundlichen kleinen Mann, der die Schuld immer bei anderen sucht und nie bei sich selbst.


Gerne hat Babsi als Jugendliche mit ihren Eltern früher abends zusammengesessen und Folge für Folge „Ein Herz und eine Seele“ geschaut und zusammen mit ihnen gelacht. Eine schöne Zeit war das! Sie hatte dann immer das Gefühl, sie seien eine ganz normale harmonische Familie. Klar, wenn man etwas zusammen schaut, muss man sich nicht unterhalten. Und dann kommt es zu keinen Meinungsverschiedenheiten oder gar einem Streit. Schade um die Ehe ihrer Eltern…


Babsi muss sich etwas schütteln, um wieder in die Gegenwart zu kommen. Schließlich geht es hier nicht um ihre sich ständig streitenden Eltern oder ihre Familienabende vor dem Fernseher. Nein, es geht um diesen Ekel-Alfred-Verschnitt, der jeden Tag aufs Neue in dem kleinen Supermarkt auftaucht, in dem Babsi arbeitet. Jeden einzelnen Tag hat er eine Packung Milch und eine Packung Cornflakes unter dem Arm. Jeden Tag legt er sein passend abgezähltes Kleingeld auf die Theke. Babsi schaudert bereits bei dem Gedanken daran, dass sie gleich schon wieder diese klebrigen verschwitzen Münzen entgegennehmen muss. Schon allein der Gesichtsausdruck nervte sie. Wie kann ein einzelner Mensch jeden Tag gleich schlecht gelaunt sein, fragt sie sich. Es muss doch auch mal einen Tag geben, an dem dieser fiese kleine Kerl gute Laune hat. Kein Wetter macht ihn fröhlich, egal ob es sonnig, windig, kühl oder regnerisch ist. Immer scheint es genau verkehrt zu sein. Nicht mal der Zustand, dass der Supermarkt manchmal so leer ist, dass er nicht einmal anstehen muss an der Kasse, macht ihn zufrieden. Wenn er lange anstehen muss, ister selbstverständlich verärgert, dass es so lange dauert. Das sieht man ihm immer an, da er dann leicht auf die Zehenspitzen geht und die Sohlen seiner immer blitzblank polierten Schuhe langsam abrollt, bis er auf den Fersen steht. Dann wiederholt er diesen Vorgang so lange, bis er endlich an der Reihe ist und sein klebriges Geld auf die Theke legt. Manchmal fragt sie sich, ob er eine Familie hat. Oh Gott, die arme Frau! Ob er wohl Kinder hat? Wahrscheinlich schämen sie sich, wenn er sie zu einer ihrer Schulaufführungen begleitet. Schließlich möchte keiner mit so einem Miesepeter gesehen werden.


Babsi kommt nicht drum herum, sich diesen kleinen Mann als Kind vorzustellen. Sie kann sich nicht ausmalen, dass er fröhlich durch die Gegend lief und mit den anderen Kindern Verstecken spielte. Wahrscheinlich war er die Petze, die direkt zum Lehrer rannte, wenn jemand mal zu schnell über den Schulflur lief. Bestimmt hat er keine Freunde. Bestimmt nicht. Wie zum Kuckuck schafft man es eigentlich, eine ganze Packung Cornflakes am Tag zu verschlingen? Isst er denn nichts anderes am Tag? Oder sind die Cornflakes vielleicht gar nicht für ihn, sondern seine zahlreichen Kinder, die zum Frühstück nichts anderes akzeptieren? Irgendwann würde sie ihn mal fragen. Irgendwann. Aber nicht heute. „Guten Tag, Fritz-Walter“ sagt Babsi bemüht freundlich. „Das macht 6,34 Euro.“


"Erinnern" von Annika Steinke (@texttraeumerin)

„Haben Sie das von den Fischers gehört?“ „Von den Fischers? Nein, was ist mit ihnen?“ „Sie sind zurückgewandert.“ „Zurückgewandert? Aber wohin denn? Ins Ausland? Sie meinen wohl 'ausgewandert'?“ – „Nein, ich meine 'zurückgewandert', mit dieser neuen Technik von der Klinik im Zentrum der Stadt. Das haben sie schon häufiger gemacht. Aber diesmal sind sie geblieben. Dauerhaft.“ „Dauerhaft? Sie meinen permanent? Das ist doch nicht möglich!“ „Jawohl ist es das! Sie haben ihr Haus verkauft, haben ihren geliebten, plattschnäuzigen Pekinesen der Nachbarin übergeben und sogar eine Abschiedsparty haben sie gemacht. Und letzten Dienstag, nun, da war es dann so weit. Sie sind in diese Klinik unten im Zentrum und waren einfach weg!“


Als Fritz-Walter an diesem Morgen seine Cornflakes zu sich nahm, dachte er immer noch über das Gespräch mit seiner ehemaligen Sekretärin nach, die er gestern Nachmittag zufällig bei einem Einkauf auf dem Wochenmarkt getroffen hatte. An Herrn und Frau Fischer konnte er sich gut erinnern. Fitz-Walter war immer ein sehr beliebter Chef gewesen, der als fair und loyal galt. Entsprechend groß war die Anerkennung, die ihm zuteilwurde, als er vor gut acht Jahren in den verdienten Ruhestand ging. Herr Fischer war Abteilungsleiter in seiner Firma gewesen. Durch einen tragischen Autounfall verloren er und seine Frau ihren gerade erst 18 Jahre alt gewordenen Sohn. Von ihrem Verlust konnten sich die Eheleute nie wirklich erholen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, erinnerte sich Fritz-Walter an ein Gespräch, das er mit Herrn Fischer kurz vor seiner Pensionierung geführt hatte. Ein Team aus renommierten Wissenschaftler:innen versprachen mithilfe neuster neuroanalytischer Methoden eine Zurückführung in tief im eigenen Geist verborgenen Erinnerungen und Sehnsüchte. Fritz-Walter hatte damals nur müde gelächelt. Solche Gedankenspielchen waren nichts für ihn. Doch er konnte sich vorstellen, was Herrn und Frau Fischer dazu bewogen hatte, eine alte Erinnerung nicht nur zu besuchen, sondern für immer dort zu bleiben.


Fritz-Walter schloss die Augen. Wie jeden Morgen in den letzten 5 Jahren saß er allein am Tisch. Eine Schüssel, ein Löffel, eine Tasse Kaffee vor ihm. Seine Frau lebte nicht mehr. Ohne sie war er einsam geworden. Was würde er dafür geben, noch einmal mit ihr über die grünen Hügel im Sonnenblumenfeld zu laufen! Wie auf diesem einen Foto, das seit zwanzig Jahren im Wohnzimmer auf dem Kamin stand. Er öffnete die Augen wieder, ging an seinen Computer und googlete nach dieser ominösen Hightech-Klinik im Zentrum der Stadt.

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